Tagungsbericht BuKo12 Part06

Posted: 17.10.2011 | Tags: , , , , , , , | No Comments »

„Chuck Norris ins Sekretariat bitte!“

Bundeskongress Kunstpädagogik 2012, Part06 – Kunst und aktuelle Medienkultur in der Schule

Die kunstpädagogische Nachwuchsförderung und der Stellenwert zeitgenössischer Kunst und Medienkultur im Kunstunterricht standen im Fokus des sechsten Teils von BuKo12, der am 30.9. und 1.10.2011 in Dresden stattfand und von Jun.-Prof. Dr. Sara Burkhardt (TU Dresden) und Prof. Dr. Torsten Meyer (Köln) organisiert wurde. Als eine von insgesamt acht dezentralen Plattformen im Vorfeld der Abschlussveranstaltung Ende 2012 war auch Part06 als eigenständige Fachtagung konzipiert und institutionell am Kunsthaus Dresden sowie am Institut für Kunst- und Musikwissenschaft der TU Dresden verankert.

„Wie viel Kunst braucht die Kunstpädagogik?“ fragte Part01, mit dem BuKo12 im November 2010 im Kunstverein Frankfurt auftaktete. Part06 führte die Frage weiter: „Welche Kunst braucht die Kunstpädagogik?“ und antwortet: „Die aktuelle!“ Vor dem Hintergrund der prinzipiellen Debatte, wie Schüler Bild- und Medienkompetenzen erlangen – Bildung durch Bilder oder Bildung durch Kunst? – ist dies also ein klares Plädoyer für einen Kunstunterricht, der sich an zeitgenössischer Kunst orientiert und seine Inhalte, Methoden und Zielsetzungen von der Kunst her entwickelt und begründet.

Leitfaden der Diskussionen um das Selbstverständnis des Faches und das Bildungspotenzial zeitgenössischer Kunst und Medienkultur war in Dresden die Reflexion des bundesweiten Stipendien-Programms „kiss – Kultur in Schule und Studium“. 2007 konnte dieses neu konzipiert und unter der Regie des BDK, gemeinsam mit der Siemens Stiftung sowie gefördert durch die Robert Bosch Stiftung , für weitere drei Jahre fortgesetzt werden. In der Folge erarbeiteten von 2008 bis 2010 jährlich fünf Lehramtsstudierende der Kunstpädagogik in Kooperation mit internationalen Künstlern Unterrichtsprojekte zum Thema „Kunst und aktuelle Medienkultur“. Das fruchtbare Zusammenspiel von Künstlern, Stipendiaten, Schülern und Lehrern in und außerhalb von Schulen und Museen lobte Martin Klinkner, stellvertretender Vorsitzender des BDK, in seinem Grußwort für die Tagung ausdrücklich und sprach vom qualitativ hochwertigen Beitrag jenseits luxurierender „Leuchtturm“-Projekte. Gleichzeitig verlieh er dem Wunsch einer breiteren Umsetzung entsprechender Projekte Ausdruck, die den – nach wie vor prekären – institutionellen Status der Kunstpädagogik stärke und ihr öffentliche Wertschätzung zuteil werden lasse. Dies ist eine Voraussetzung für die notwendige politische Handlungsfähigkeit und Legitimation des Faches.

Den anschließenden Hauptvortrag in der Dreikönigskirche hielt Gila Kolb, Promotionskolleg „Gestalten und Erkennen. Kompetenzbildung in den künstlerischen Fächern und Fachbereichen der Schule“, LMU München und FAU Nürnberg/Erlangen und ehemalige kiss-Stipendiatin (2005). Sie stellte das Potenzial der Zeitgenossenschaft aktueller Kunst für den Kunstunterricht in den Mittelpunkt und skizzierte die Werk-, Themen- und Methodenauswahl als paradigmatisch für den heutigen Kunstunterricht, was sie eingangs mit dem Video „7 bis 10 Millionen“ des Künstlers Stefan Panhans prägnant visualisierte. Ein junger Mann spricht in bis zum Anschlag erhöhter Geschwindigkeit über den Horror der Auswahl beim Kauf eines technischen Gerätes, hin- und her gerissen zwischen Mogelpackung, Gebrauchszubehör, Schnittstellentechnik und Billignachbau, um zu schlussfolgern: „… das wichtigste wäre eventuell mal wieder das, was du eben nicht weißt“.

In Analogie zum Video zeigte Kolb, wie sich die Auswahl innerhalb der Gegenwartskunst für den Unterricht als sehr viel komplexer als bei kanonisierten Werken der Kunstgeschichte gestalte, da diese ohne historischen Abstand noch keine „gedanklich zu vollziehende Totalität“ darstellt. In ihrer Zeitgenossenschaft jedoch liege die Potenzialität der aktuellen Kunst für den Unterricht. Einerseits ermögliche Zeitgenossenschaft einen Anschluss an das aktuelle Lebensumfeld der Schülerinnen und Schüler, sie sei gleichzeitig aber auch geschichts- und voraussetzungsvoll, da an ihr immer auch eine Bildtradition zu entwickeln möglich sei. Darüber hinaus avisiere die Zeitgenossenschaft auch das Zukünftige, das Unbekannte und Unartikulierte, indem sie Überforderung, Experiment, Unverständnis, Widerspruch und Scheitern ermögliche. Das Spannungsverhältnis zwischen Zulassen und Aushalten, Wissen und Noch-nicht-Gewußtem, so Kolb abschließend, könne Schülerinnen und Schülern eigene Handlungs- und Erfahrungsräume öffnen.

Wie wird Wissen produziert? Welches Potenzial birgt Nichtwissen? Dies waren auch Leitfragen der von Petra Reichensperger unter Assistenz von Ulrike Jordan kuratierten Ausstellung „is that true? possibilities of (non-)knowledge”, die im Zusammenhang mit der Tagung im Kunsthaus Dresden stattfand. Sie zeigte vom 8. Juli bis 2. Oktober 2011 Arbeiten von Com&Com, Bjørn Melhus, Peter Piller, Jeanne Faust, Jonathan Monk, Michael Sailstorfer, Eran Schaerf, Jakob Kolding und Katarina Zdjelar, die neben anderen an kiss beteiligt waren. Dass die Veranstalter die Tagung neben der Universität auch an der städtischen Galerie verortet haben, schlägt die Brücke zwischen unterschiedlichen Orten der Wissensproduktion und -vermittlung ganz im Sinne eines institutionsübergreifenden kunstpädagogischen Diskurses. Indem nicht nur künstlerische Positionen gezeigt, sondern in einem Vermittlungsraum die kiss-Projekte dokumentiert wurden, konnte die Verbindung zur Kunstpädagogik hergestellt werden.

Der zweite Tag der Tagung bot dynamisches Zirkulieren von Wissen und Erfahrung. Er wurde von sieben Workshops strukturiert, die der Präsentation und Reflexion der einzelnen kiss-Projekte dienten. Die ehemaligen Stipendiaten fächerten das Methodenspektrum, die Lernprozesse und Arbeitsergebnisse der Projekte auf und untersuchten gemeinsam mit den teilnehmenden Kunstlehrern deren Praktikabilität und Unterrichtsnähe. Der Fokus lag auf den Möglichkeiten eines Kunstunterrichts, der von einem veränderten Bildverständnis ausgeht und kommunikative und kollaborative Arbeits- und Produktionsprozesse initiiert. Hier folgte die Dresdner Tagung lebendig dem formulierten Anspruch von BuKo12, eine partizipatorische und plural orientierte Kongressform zu sein.

Workshop 1: processing. recycling und kunstunterricht 2.0

Überforderung, Hacking und Recycling waren die drei zentralen Strategien, die Robert Hausmann und Matthias Laabs in ihrem Workshop als Anreiz für Schüler zu selbstbewusster Medienkompetenz und eigenständiger Produktivität veranschaulichten. Im beispielhaften Einsatz von Social Media wie Blog oder Twitter forderten sie zu einem Spiel mit kulturellen Daten und Codes im realen und virtuellen Raum auf. Zunächst wurde den Workshopteilnehmern ein didaktisches Setting zur Ideenentwicklung für Wahrnehmungsverschiebungen an die Hand gegeben: „Stellt euch vor, die Erdanziehung ginge von der Wand anstatt vom Boden aus“, oder „Wie kann man den Raum ohne Lineal vermessen?“ Didaktische Multiplikation statt Vereinfachung durch eine Fülle an Übungen, Bildern, Materialien, die in einzelnen Schritten bearbeitet wurden, dazwischen wieder Perspektivwechsel und Umdeutung: „Kamera ans Knie binden und damit durch die Gegend laufen!“ Anschließend wurde vom Vorgehen beim kiss-Projekt berichtet und wie die im Netz recherchierten Definitionen zu vorgegebenen Begrifflichkeiten täglich im Blog gepostet wurden, was wiederum Fremdkommentare und Tweets anderer nach sich zog. Schlagartig wurde das Potenzial des Blogs deutlich: Definitionen und Zuschreibungen sind nicht mehr Produkt eines Autors, sondern werden kollaborativ erstellt – und dies ist ein unendlich fortsetzbarer Prozess.

Eine gelungene Generierung von Ideen entstand durch die Übersetzung der digitalen „blue ball machine“ in den analogen Kontext. Aufgabenstellung hierfür war: Schüler suchen sich einen „Ball“ im realen öffentlichen Raum, der ein System durchläuft oder selbst durchlaufen wird. Eine Schülergruppe wählte daraufhin den Bahnhof als infrastrukturellen Knotenpunkt. Von diesem ausgehend entstand die Beobachtung, dass viele Menschen im Straßenverkehr sich ekeln, die gelben Ampeldrücker zu bedienen, woraufhin ein Ampeldrückerputzplansystem erstellt wurde. „Wir gingen durch die Stadt, kartierten die Ampeln und machten einen Putzplan: Hier waren wir um 9 Uhr, hier um 12 Uhr und haben das mit Video dokumentiert“. Eine kleine präzise Intervention, die veranschaulicht, wie man sich in ein System einschleust, es erkundet und decodiert und anschließend eine bewusste Desorientierung oder Neuorientierung einbaut. An vielen Beispielen dieser Art konnten die Workshopleiter zeigen, wie Zweckentfremdung und Umwertungen eingesetzt werden können, mit dem Ziel neue Lesarten des Gewohnten zu erreichen.

Workshop 2: „Stadt im Ohr“ – Hören in der Kunst

Der Unterschied zwischen auditiver und visueller Auseinandersetzung, zwischen Hören und Sehen ist gar nicht so groß wie anfangs vermutet, lautet das Resümee einer Teilnehmerin am zweiten Workshops „Stadt im Ohr“ von Konstanze Schütze und Isabel Eisfeld. Zur Erforschung der akustischen Umgebung haben die beiden Workshopleiterinnen einen „gigantisch großen Methodenpool mit vielen klugen Fragestellungen“ bereitgestellt, mit dem man sich im Unterricht der Welt schrittweise auditiv nähern und selbst Audiobilder erzeugen kann. Beispielhaft dafür stand z.B. die Frage: „Wie klingt Kartoffelbrei?“

Nicht alle Informationen des Alltags werden visuell weitergegeben. Allerdings stellt man sich der Vielfalt umgebender Geräusche wesentlich seltener interpretierend als der Bilderflut. Wie also entwickelt man eine auditive Idee von Kartoffelbrei? Wie kann das Empfinden, das an Kartoffelbrei geknüpft ist, auditiv übersetzt werden, etwa vom Herstellungsprozess bis zum Fallenlassen auf einen Untergrund. Was gibt sein Wesen wieder, in welchem Verhältnis steht man selbst zum Kartoffelbrei, usw.?

Nach der Schärfung des Gehörs durch die Sensibilisierung für Klänge im Stadtraum wurden Aufgabenstellungen erteilt: Geräusche der Umgebung notieren, anschließend kategorisieren. Was hört man öfter, was weniger oft, was nur einmal, was hat einen Rhythmus, was überlagert sich? Dies führte zur komplexen Beschreibung einer klanglichen Situation und der Untersuchung, welche inneren Bilder dabei evoziert werden. Anhand verschiedener künstlerischer Strategien, wie der Dekonstruktion und Neuzusammenführung, wurde dann der eigene spielerische Umgang mit auditivem Material erprobt, um gemeinsam eine Hörcollage zu produzieren, die sich aus einzelnen, in Kleingruppen erarbeiteten Teilstücken zusammensetzt.

Workshop 3: „Space Invaders“ – Alltagsräume wahrnehmen, erforschen und neu gestalten

Raum ist nicht nur gestaltet, sondern auch zu gestalten. Weg vom passiven Wahrnehmen eines Raumes als vorgegeben, hin zur aktiven Aneignung durch Gestaltung und Veränderung – dazu forderte Tabea Kießling ihre Teilnehmer im dritten Workshop auf. Wie kann man den je eigenen „Space“ eines Raumes erfahrbar machen, wie lassen sich eigene Handlungs- und Freiräume erobern? Diesen Fragen auf der Spur, wurden zunächst anhand unterschiedlicher Erkundungsstrategien die faktischen und atmosphärischen Eigenschaften eines Raumes untersucht und wie diese das individuelle Verhalten beeinflussen. Zur systematisch forschenden Raumerschließung gehören Begehung, fotografische Dokumentation, Mindmapping, Vergleiche, Textbezüge, Brainstorming und Aktionen im Raum.

Im Workshop wurde dies anhand des konkreten Untersuchungsgegenstandes, einem Malatelier im Erdgeschoss des Dresdner Instituts, veranschaulicht und seine Farben, Strukturen, Proportionen, Elemente, Materialien und Oberflächen untersucht. Einhellig stellte sich ein Gefühl von bedrückender Enge ein, erzeugt durch die Anwesenheit von ca. 20 Staffeleien, die wie eine Armeeformation wirkte, jede einzelne bereits eine Persönlichkeit, Kunstwerke für sich. Fazit nach eingehender Erkundung: „Raum nicht praktikabel, und vor allem: Vorhänge weg!“ Die grundlegende Frage – Wie verändert man Raumgrenzen? – schien hier jedoch sehr schwer zu beantworten. Nachdem alle Staffeleien in die Mitte des Raumes verrückt und mit Klebeband umzingelt wurden, wird deutlich: Für den eigenen Space bleiben noch just 50 cm entlang der Raumbegrenzung, eine – wenn auch negative – körperlich sehr klar erfahrbare Raumwirkung.

Workshop 4: „Mach lauter!!!“ – Lauschangriffe und Gehörgangserkundungen

Die Schule als Klangraum ist ein sensibles System, eine seiner größten Herausforderungen ist die Lautstärke: Wer entscheidet, wann und wo wie laut gesprochen werden darf? Tatsächlich spielen Gehör und aufmerksames Hören nicht nur für Schüler, sondern auch für Lehrer eine maßgebende Rolle. Und Grundvoraussetzung für die tägliche Wissensvermittlung ist ein geringer Geräuschpegel. Vor diesem Hintergrund der Klangverteilungen und -regelungen beschäftigte sich der Workshop von Christoph Medicus mit dem Einsatz von Ton als plastischem Gestaltungsmittel. „Allerdings wollte ich nicht eine klassische auf Musik hin gedachte Verwendung, sondern Geräusche assoziativ auf Körper, Objekte und Räume beziehen, nicht auf Rhythmik, Melodie oder Erzählung.“, erläutert Medicus.

Den Einstieg für die Schüler bzw. Workshopteilnehmer wählt er über verschiedene performative Lockerungsübungen, wie etwa sich gemeinsam vorzustellen, ein Geräusch im Raum zu sein, z.B. eine Billardkugel, die auf eine andere trifft. Dieses Geräusch reproduzieren und auf die Gesamtatmosphäre achten! Oder Rücken an Rücken assoziativ zu einem Wort Geräusche zusammen mit einer körperlichen Geste erzeugen, sich z.B. Klänge durch den Raum zuzuwerfen, Ping Pong ohne Ball nur mit Klängen. Daran anschließende Aufgabenstellungen waren: Schule mit dem Gehör erkunden, erforschen, hinterfragen, zeichnen, interpretieren, neu in Szene setzen. Was ist Raumklang, was ist spezifischer Objektklang? Referate von Schülern zu bestimmten Begriffe wurden in erste kleine Klanglandschaften überführt. Außerdem wurde Klang spielerisch auf seine macht- und ordnungspolitischen Implikationen im Schulgebäude untersucht und eingesetzt: Mittels eines Fakenamegenerators entwickelten Schüler eine akustische Intervention für die Pausenhalle. Der Generator, der künstliche Namen erstellt, rief während der Pause als Fakepausendurchsagen nicht existierende Schüler zum Direktor. Die Auflösung kam erst ganz zum Ende, als eine bekannte Figur „Chuck Norris ins Sekretariat!“ gebeten wurde.

Workshop 5: „Raus aus der Schule!“ – Im realen und virtuellen Raum den Alltag kartieren

„Bilder schießen auf denen nicht mehr eindeutig erkennbar ist, worum es eigentlich geht!“, lautete der erste Arbeitsauftrag im fünften Workshop von Julia Ziegenbein, und Ergebnis war dann folglich auch dies: vermeintlich verunfallte Bilder, die man normalerweise wegschmeißen würde oder die sich erst auf den 5. bis 6. Blick erschließen. Hintergrund der Einstiegsübung war die Frage: Welche Bilder entstehen in einem uneindeutigen Bereich wie der Peripherie des Unigeländes, worauf wird man während der Erkundung aufmerksam, was ist seltsam, uneindeutig? Gibt es Rätsel, die man fotografieren kann? Und wenn Nichts ist, dann davon ein Foto machen!

Anschließend wurden alle Fotos, die während der „produktiven Verirrung“ in der Umgebung entstanden, in einen Pool gegeben und von den Workshopteilnehmern – in Gruppen aufgeteilt – nach Kriterien untersucht: Was haben die Bilder gemeinsam, wo sind inhaltliche oder formale Parallelen, wo Schnittstellen zu anderen Bildern, welchen Kategorien sind welche Bilder zuzuordnen? Auf der Grundlage der entstandenen Ordnung wurden Serien und Phänomenologien erstellt und entsprechende Titel gefunden z.B. die Oberkategorie „auf und zu“ oder die Unterkategorie „offene, vergessene Türen“. Diese unkonventionelle Methodik führte zu einem Perspektivwechsel auf die produzierten Bilder, in dem das Zufällige plötzlich eine ungeahnte Systematik hervorbrachte oder die Serie die Verfehltheit im Bild erst so richtig veranschaulichte. Zum Abschluss wurde über die Strategie der „produktiven Verirrung“ als Form des offenen projektorientierten Unterrichts an der Schule reflektiert. Welche Auswirkungen entstehen dabei für die Selbst- und Weltbilder von Schülern und wie verändert sich innerhalb von Lehr- und Lern-Situationen die Rolle des Lehrers, der Schüler und des Werkbegriffes?

Workshop 6: „Du bist in diesem VZ noch nicht angemeldet. Willst du dich jetzt registrieren?“ – Kommunikation. Social Networks. Identitäten.

Eine junge Workshopteilnehmerin stellt sich vor: „Guten Tag, ich bin Manfred Maut, 53 Jahre alt. Ich komme aus Dresden, man hört es mir gar nicht an. LKW-Fahrer bin ich von Beruf und kämpfe gegen das gängige Klischee der Fernfahrer, indem ich so tollen Sport wie Einradfahren betreibe, ich belege darüber hinaus einen Volkshochschulkurs in Philosophie und nehme mich der Seifenblasenkunst an. Woran kann man mich erkennen? Ich trage als Besonderheit eine Narbe über meiner Lippe, die ich bei einem Auffahrunfall im Alter von drei Jahren mit meinem Bobbycar erhielt.“

So liest sich das Resultat einer Übung des 6. Workshops von Theresa Rieß. Anhand der Persönlichkeitsschnipsel aus Portemonnaies wie Kassenzettel, Belege, Strafzettel usw. wurden die Workshopteilnehmer aufgefordert, über die Identität ihrer Besitzer zu spekulieren und ansatzweise das Erfinden und Leben in einer fremden Identität durchzuspielen. Welche Information führt zu welchen Rückschlüssen, welche Identität kann wie rekonstruiert werden, welche Klischees entstehen: „Baumarktrechnung über Orchideendünger – was denkt man: Rentner!“ Auf diese spielerische Weise wurde im Analogen eingeübt und aufgedeckt, was durch die Kurzlebigkeit im Digitalen entweder ganz verborgen bleibt oder zu späten Irritationen führt, da sich Fakes gar nicht oder erst reichlich verzögert auflösen. Der Workshop trainierte Medienkompetenz als tatsächlich körperliche Erfahrung, indem immer wieder von analog zu digital gesprungen und anschauliche analoge Visualisierungen digitaler Prozesse gefunden wurden. Anzufügen bleibt, dass das im Rahmen von kiss durchgeführte Projekt von Rieß  technisch auf sehr hohem Niveau rangierte, weil eigens ein Social Network programmiert werden konnte, was nicht nur mit hohen Kosten, sondern auch mit einem enormen Zeitaufwand verbunden ist.

Workshop 7: „Alles eine Sache der Einstellungsgröße.“ – Darstellungsmittel im künstlerischen Video

Die produktive Ambivalenz des Films als technisches Medium und Mittel der Inszenierung führt ins Zentrum des siebten Workshops von Cathérine Lehnerer. Zunächst stellten sich die Workshopteilnehmer untereinander vor. Auf dieser Grundlage wurden dann Ähnlichkeiten, Überschneidungen und Unterschiede in Bezug auf die individuellen Erzählungen und Inszenierungen der Personen herausdestilliert. Anschließend portraitierten sich die Teilnehmer in zweiminütigen, slapstickartigen Filmsequenzen gegenseitig.

Leitend für die kleinen Filmproduktionen war die Frage: „Was gibt und was nimmt im Lehreralltag Kraft?“ Dazu erproben die Teilnehmer in Übungen die wichtigsten filmtechnischen Mittel, um zu analysieren wie diese jeweils funktionieren und wirken. Mit Licht, Einstellungsgröße, Kamerabewegung, Ton und Schnitt wurden die Handlungen in Szene gesetzt. Dabei ging es um die Wahrnehmung, die man von anderen Menschen hat und welche Wirkungen durch welche filmischen Entscheidungen beim Rezipienten hervorgerufen werden können.

Als grundlegende Erfahrung aus dem kiss-Projekt berichtete Lehnerer, dass die Gedankenleistung „Film als Konstrukt“, die von den Schülern zu erbringen war, sehr anspruchsvoll ist und bereits ein großes Wissen um die Entstehungsbedingungen des Mediums voraussetzt. Zielsetzung war für sie daher, mit den Schülern erfahrungsbetont zu arbeiten und sie in ihrer Selbsttätigkeit anzuregen. Andererseits schilderte sie, dass die Motivation bei Schülern, sobald eine Kamera ausgepackt wird, per se schon groß ist: „Sie hängen sich rein, weil sie wissen, dass das Ergebnis auch andere Schüler sehen oder sogar auf YouTube gestellt werden kann.“ Für den Film, der als Abschluss ihres Projektes entstanden ist, wurden drei Einstellungen auf eine Szene ausgewählt. Die letzte Einstellung und der Zusammenschnitt für den Film führen zur Auflösung und erhellen die Zusammenhänge: Der Beobachter ist selbst Akteur! Sehr gelungen, wie die eigenen Sehgewohnheiten befragt und wesentlich erweitert wurden und Film zwischen Filmwirkung und Wirklichkeitskonstruktion erfahrbar geworden ist.

Fazit

In der Gesamtschau der Projekte zeigte sich eine enorme konzeptionelle und mediale Bandbreite, die kritische Kunst- und Medienrezeption ebenso umfasste, wie eigene gestalterische Experimente und Interventionen. Deutlich wurde, dass eine an Strategien der zeitgenössischen Kunst anknüpfende Kunstpädagogik Bildungspotenzial hat. Sie öffnet Schülern und Lehrern Handlungsräume, in denen individuelle Weltbetrachtung in eigene, analoge und digitale, sicht- und hörbare Prozesse und Produkte überführt werden können. Zwar haben sich alle Stipendiaten mit den Konzepten der jeweiligen kiss-Künstler auseinandergesetzt und sich auf diese bezogen. Bei der Frage jedoch, wie deren künstlerischen Denk- und Handlungsstrategien mit den Schülern resp. Workshopteilnehmern erprobt und weiterentwickelt werden können, gingen die Projekte weit über die bloße Adaption hinaus. Eindrücklich zeigte jeder Workshop wie sich aus künstlerischen Strategien Impulse und neue Perspektiven, komplexe Bezüge und Lernprozesse zu kunstpädagogischen Prinzipien für den Unterricht weiterentwickeln lassen.

Deutlich wurde auch, mit welch hohem Maß an persönlichem Einsatz und Begeisterung die Stipendiaten ihre Konzepte und Methoden erarbeitet und umgesetzt haben und wie entscheidend die jeweiligen Rahmenbedingungen wie Schultyp, Gruppengröße, Raum, Ausstattung, Lernatmosphäre sind. Gleichwohl ist in den leiseren Untertönen zu vernehmen, dass ein so ambitioniertes Stipendienprogramm vor allem mehr Zeit für Vorbereitung, Entwicklung und Umsetzung erfordert hätte. Und so resümiert die Stipendiatin Julia Ziegenbein ihre Haltung:

„Ich gehe an die Schule, aber nur unter der Bedingung, dass ich irgendwo lande, wo ich was verändern kann. Wir erleben gerade, dass in der Kunst schon seit einiger Zeit was passiert … mit dem Werkbegriff, mit dem Autorenbegriff, der Betrachter bekommt eine andere Rolle. Warum nicht auch in der Schule? Gerade da ist es spannend, zeitgenössische Kunst hineinzutragen und Anlässe zu schaffen, auch über Schule nachzudenken und dies rückzubinden auf die Situation, in der man sich befindet.“

Damit wird der Staffelstab eingerollt und nach Erfurt weiter getragen, wo am 11. und 12. November 2011 Part05 stattfinden wird: „Kunstpädagogik im Kontext von Ganztagsbildung und Sozialraumorientierung“. Fortsetzung folgt.

 

Carina Herring

Carina Herring, freie Kuratorin und Autorin Berlin/Marseille, von 2004 – 2010 Projektleiterin der Arbeitsgemeinschaft deutscher Kunstvereine, Berlin.
Initiatorin folgender Projekte: COLLABORATION.Vermittlung.Kunst.Verein. Ein Modellprojekt zu zeitgemäßen Formen der Kunstvermittlung an Kunstvereinen, 2008-2010. CROSSKICK – Europäische Kunsthochschulen zu Gast in Deutschen Kunstvereinen. Ein internationales Programm zu künstlerischer Lehre und kuratorischer Praxis mit 13 Kunstvereinen und 30 europäischen Kunsthochschulen, 2006-2009.

 



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